Die Ruhe vor dem Sturm

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Paranoia ist keine besonders umgängliche Eigenschaft. Besonders wenn Menschen davon befallen sind die Zugriff auf schwarze Aktenkoffer mit großen roten Knöpfen darin haben. Für manche Tätigkeit gibt es jedoch nichts besseres. So zum Beispiel auch für das Erziehen von Kindern. Hier ist Paranoia manchmal sogar Voraussetzung dafür, dass die anbefohlenen Schützlinge ein Alter erreichen in dem sie selbst für ihr Überleben verantwortlich sind.

Ich stehe gerade vor einem nicht ganz überzeugenden Versuch eine Gemüsepfanne zu zaubern, da beschleicht mich plötzlich der dringende Verdacht, etwas sehr Wichtiges vergessen zu haben.

Was war es nur? Hab ich den Herd angelassen? Ich schaue hinab auf die angesengten Auberginenwürfel. Tatsächlich, der Herd ist an! Allerdings stehe ich auch unmittelbar davor. Das geht also in Ordnung.

Was dann? Fenster auf? Wäsche noch in der Maschine? Spielzeug noch draußen…Spielzeug?! Das Kind!

Seit gut 20 Sekunden ist mein Zweijähriger aus meinem visuellen wie auch akustischen Umfeld verschwunden. Und ich weiß, was diese Stille bedeutet.

Ich drehe die Flamme klein und renngehe…ja: „renngehe“. Es gibt kein besseres Wort um diesen typisch elterlichen Mix aus rennen und gehen zu beschreiben. Diese Bewegung die sowohl signalisieren, dass man versucht so schnell wie möglich einen bestimmten Punkt zu erreichen und gleichzeitig, dass man gar nicht wissen will, was einen dort erwartet und am liebsten nie dort ankommen möchte. Ich nenne diese Gangart „renngehen“ und verlange als mein Testament die Bereicherung des Dudens um diese Vokabel.

Wie dem auch sei. Ich renngehe also aus der Küche ins Wohnzimmer. Die Ewigkeit die es mich kostet zu meinem Spross wieder Sichtkontakt aufzubauen reicht aus, dass ich mich unterwegs an alle bereits erlebten und damit potenziellen Katastrophen erinnere, die mein Nachwuchs in meinen oft erstaunlich kleinen Phasen der Unachtsamkeit zustande gebracht hat. Wer einen Zweijährigen zuhause hat (oder hatte) weiß: Diese Liste ist sehr lang. Für mich stellt sich in diesem Moment also auch gar nicht die Frage ob überhaupt etwas passiert ist sondern lediglich ob sich die Fahrt in die Notaufnahme noch lohnt und ob sich die Flecken auf dem Kunstholzboden mit Waschbenzin entfernen lassen.

Das Epizentrum der idyllischen Ruhe kniet halb auf seinem Stuhl, halb auf dem Tisch. Den Geräuschen nach kaut es etwas.

Im Kopf wähle ich bereits die Nummer für den Giftnotdienst. Man kennt mich dort mit Vornamen.

Aber was sieht mein entzündetes Hirn? Die Substanz die mein Sohn da im, wegen Überfüllung geöffneten, Munde hin und her wälzt gehört nicht zu den Kategorien „Pfui“, „Bah“ oder „neinneinNeinNeinNEIN!“. Es ist schlicht und ergreifend:

Reis.

Irgendwie hat er es geschafft die Schale mit dem kalten Reis vom Mittag von der Anrichte zu nehmen und mit ihr an den Esstisch abzuhauen. Mit großen Kulleraugen schaut er mich jetzt an. Er fühlt sich ertappt. Natürlich. Er denkt ich werde ihn schimpfen und seine Beute weg nehmen. Für ihn macht es keine Unterschied ob es kalter Reis oder Schokoladenkuchen ist. Alles schmeckt gut, solange man es von Papa gestohlen hat. In dieser Hinsicht ähneln kleine Kinder den Katzen. Gedenken auch Sie sich einen Haushalt mit Kindern zuzulegen, sind sich aber noch nicht ganz sicher empfehle ich daher einen Versuchsaufbau mit Katzen. Es eignet sich auch zur Eingewöhnung fortpflanzungsunfreudiger Lebenspartner in ein Leben in Angst, Chaos und toxischen Gerüchen. Sprechen Sie noch heute mit einem Tierheim ihres Vertrauens.

Als ich meinem Sohn zu nahe trete um ihm beruhigend durch die Haare zu wuscheln, umklammert er die Reisschale wie einen Schatz. Erstaunt bemerkt er, dass ich sie ihm gar nicht wegnehmen will.

Ich gehe zurück in die Küche. Ich sollte mir öfters Reis stehlen lassen. Vielleicht auch mal einen Teller Karottenstreifen oder gedünsteten Brokkoli. Wenn dieses Kind den Nervenkitzel des Verbotenen meinen Kochkünsten vorzieht, könnte sich seine Ernährung in Zukunft ziemlich einfach und günstig gestalten lassen.

Nachtrag: Erst als ich nach dem Essen das Geschirr zusammenräume, sehe ich, dass sein Trinkbecher bis zum Rand aus einer Mischung aus Wasser, Apfelsaft und Reismatsch gefüllt ist. Kollateralschäden meiner Erziehung. Was solls. Ich verstaue das alchemische Experiment fürs erste im Kühlschrank. Wenn ich ihm verbiete davon zu naschen, isst er es vielleicht zum Frühstück.

Die Ruhe vor dem Sturm

Goodbye, Tokyo-Baby!

GoodbyeTokyoBaby

Goodbye Tokyo-Baby!

(v.2)

Tokyo!

Oh…Tokyo!

Es ist aus mit uns.

Als ich sagte ich würde Schokozigaretten kaufen gehen hab ich gelogen.

Ich bin weg, Tokyo! Verduftet. Hab mich abgesetzt.

Ich hab jetzt eine Neue.

Sie heißt „Tsu“. Das liegt in Mie. Südlich von Nagoya.

Und ich sag dir, sie hat alles was du nicht hast. Zum Beispiel Platz. Erinnerst du dich als ich sagte: auf 25 Quadratmetern wohnen reiche mir nicht mehr? Du hast mich ausgelacht! Hast gemeint, ich könnte ja wieder zu Yokohama in mein feucht-kaltes 18 Quadratmeter-Loch ziehen.

Ich hab dir erklärt dass ich gerne noch ein zweites Kind wollte. Vielleicht ein drittes. Du meintest nur die Mieten würden bald wieder steigen und ich solle dankbar sein für das was ich habe.

Soll ich dir mal sagen was mir Tsu für das gleiche Geld gegeben hat? 66 Quadratmeter! 66! Ich hab jetzt einen Raum den ich nur zum Schlafen verwenden kann. Ich muss dort nicht auch noch Kochen, Duschen, Essen, Arbeiten und den Müll lagern. Nein. Für alle diese Dinge habe ich jetzt ein jeweils eigenes Zimmer. Ja, Tokyo. Sogar für den Müll!

Ich weiß was du jetzt sagen willst. Du brauchst mich nicht. Warum solltest du auch? Alle wollen dich, Tokyo. Die ganze Nation rennt, rettet, flüchtet um dir so nahe wie möglich zu sein. Wenn das so weitergeht kriegt die Insel Honshu noch seitliches Übergewicht. Du bist so begehrt, dass man im Ausland vollkommen vergisst, dass es auch ein Japan neben dir gibt das weder so aussieht noch so crazy drauf ist wie du. Hast du mal einen Blick auf Youtube geworfen? Alles voll mit Vloggern die einmal durch Shibuya marschieren und glauben sie hätten die Essenz der japanischen Kultur geschnüffelt. Das ist genauso wie wenn jemand das Oktoberfest besucht und glaubt Deutschland zu kennen. Als ob 80 Millionen Menschen morgens erstmal ne Maß frühstücken, dann mit der Achterbahn ins Büro fahren und dem Drucker in die Tonerkartusche reiern würden. Vollkommen themaverfehlt, wo war ich eigentlich? Achja:

Du bist fett geworden, Tokyo! Das wollte ich dir schon lange mal sagen. Du bist wohl die adipöseste Stadt der Welt. Stadtrundfahrten müssten eigentlich drei Wochen dauern. Und komm mir jetzt nicht mit mit: „Eh, ich bin doch voll gesund. Ich achte auf meine Hygiene und alles.“ Klar bist du gesund. Ist ja alles so herrlich durchorganisiert bei dir. Kein Schwein fährt mit dem Auto weil keiner eben 10000 Yen für ne Autobahnfahrt hat geschweige den PLATZ um das Auto auch nur in der selben Zeitzone zu parken in der das Büro steht. Straßenkriminalität, -verschmutzung und Vandalismus sind, verglichen mit der Bevölkerungsdichte auch niedrig. Ich vermute mal Nachts sind alle einfach zu müde um noch irgend einen Schwachsinn anzustellen. Und das bringt mich zum nächsten Punkt:

ZEIT.

Niemand. Wirklich NIEMAND der je bei dir gewohnt hat, hatte auch Zeit.

Oh, ich hab Leute getroffen die hatten Geld. Aber Zeit? Was nützt es Geld zu haben, wenn man keine Zeit hat es auszugeben! Hurra, endlich kann ich mir diese Südamerikareise leisten von der ich schon so lange geträumt habe. Oh Mist, ich hab ja gar keinen Urlaub. Besser ich quetsch Peru, Bolivien und Argentinien alle in ein einziges Wochenende dann wird Montags keiner merken dass ich weg war. AAAAAH!!!! Das ist ein Albtraum!

Ich weiß echt nicht, warum alle so auf dich abfahren, Toyko. Warum versuchen so viele Menschen nach deinen Spielregeln zu leben? Sich so zu geisseln und kasteien nur um hinterher sagen zu können: „Ich hab in Tokyo gelebt!“ Ich hab auch mal in Tokyo gelebt. Na und? Ich hab auch mal in Wiesbaden gelebt. Interessiert doch keinen.

Und darum verlass ich dich, Tokyo. Ich hau ab weil ich dich nicht verstehe und was an dir so faszinierend sein soll. Wenn ich über eine gemeinsame Zukunft mit dir nachdenke sehe ich nur Depressionen und Stress auf mich zukommen. Es ist mir egal, dass du bis zum Rand vollgestopft bist mit erstklassigen Restaurants, fantastischen Tempel und Museen, tausenden Theatern und Kinos sowie einem riesigen Disneyland. Ich kann in Tsu arbeiten, einkaufen, ausgehen und ausruhen und das ist alles was ich will. Mehr brauch ich nicht.

Goodbye Tokyo-Baby. Ich hoffe, du wirst mit deinen anderen 35 Millionen Beziehungen glücklich.

Ich komm Beizeiten vorbei um ein paar alte Sachen zu holen oder um den Flughafen zu benutzen. Das sollte aber kein Problem sein, du kannst mich einfach ignorieren. So wie du es mit all denen tust, die tagtäglich zwischen die Räder deines Getriebes kommen.

Machs gut,

Dein Fred

Goodbye, Tokyo-Baby!